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Amalgam


An der Frage nach der Verträglichkeit oder Unverträglichkeit des Zahnfüllmaterials Amalgam (eine Mischung, also „Amalgamierung“ verschiedener Metalle, hauptsächlich Silber und Quecksilber) scheiden sich bis heute die Geister.

Dies ist keinesfalls eine neue „Modeerscheinung“: Amalgam ist heftig umstritten bereits seit seiner Verbreitung durch die Gebrüder Crawcourt, die in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts durch ihren Umzug von Frankreich nach Amerika - und die Gründung einer äußerst florierenden Dentistenpraxis in New York - die ersten standespolitischen Auseinandersetzungen innerhalb der amerikanischen Zahnärzteschaft, den sogenannten „ersten Amalgamkrieg“, auslösten.

Dabei hatten die Franzosen in den USA einen so bahnbrechenden Erfolg, weil sie die Zahnmedizin durch ihren vergleichsweise preiswerten Füllungswerkstoff aus einem elitären Nischendasein für die reichen Stände abholten und die Zahnerhaltung so auch der weniger gut betuchten Bevölkerung zugänglich machten. Der für das Arbeiten bei Zimmertemperatur notwendige Zusatz von Quecksilber (alle anderen Metalle sind praktisch nur durch Schmelzen und Gießen, also bei großer Hitze anwendbar) wurde zwar nie als unproblematisch gesehen, aber man hielt die Verbindung des im Mund erstarrten Metalls für stabil und seine vermeintliche Giftigkeit für vernachlässigbar gegenüber dem Vorteil, nun erstmals auch für breite Bevölkerungsschichten eine Behandlungsbasis gefunden zu haben, mit der man dem rapide fortschreitenden Gebissverfall der modernen Zivilisation Einhalt gebieten konnte.

Will man die Auseinandersetzungen um das Amalgam richtig bewerten, so darf man diesen finanziellen bzw. sozialen Aspekt nicht außer Acht lassen: Die Suche nach einem finanziell neutralen, ebenso haltbaren Füllungswerkstoff wie Amalgam hält bis in unsere Tage an - und sie ist keinesfalls beendet! Da die Karies heute in ihrer weltweiten Verbreitung wieder zunehmend zu einem Problem geworden ist, das vorzugsweise ärmere Bevölkerungsschichten bzw. Länder betrifft, sind die Betrachtungen hierzu ebenso komplex wie der Zusammenhang mit der Frage einer weltweiten Ächtung des Metalls Quecksilber in sämtlichen industriellen und Anwendungsprozessen, zur langfristigen Eliminierung dieser Giftquelle aus der Umwelt.

8 % aller Träger von Amalgamfüllungen haben bei unabhängig voneinander durchgeführten Befragungen in Norwegen (2006)3 und Schweden (1993)2 gesundheitliche Probleme im Zusammenhang mit Amalgamfüllungen angegeben bzw. die Füllungen entfernen lassen. Acht Prozent sind nicht der Großteil der Bevölkerung. Aber auch keine vernachlässigbare Minderheit, wie es in der deutschen Diskussion zwischen Amalgam-Gegnern und Befürwortern oft scheint, in der je nach Standpunkt entweder „alle vergiftet“ sind – oder eben ein Fall für den Psychotherapeuten, wie es auch die umstrittene Amalgam-Studie nahelegen wollte, die durch ein deutsches Gerichtsverfahren gegen den Amalgam-Hersteller Degussa ausgelöst wurde, und die, je nach Sichtweise der Berichterstatter, entweder „Entwarnung für Amalgam“ signalisierte – oder, trotz zwölfjähriger Forschung (1996-2008!), weiterhin keine eindeutigen Ergebnisse3.

Die Frage muss erlaubt sein: Macht es Sinn, Menschen psychotherapeutisch zu behandeln, wenn deren Beschwerden genauso gut auch durch den Austausch eines Zahnfüllstoffes behoben werden könnten? Wird die  Behauptung „psychosomatischer“ Effekte nicht ad absurdum geführt durch die Überlegung, dass man ebenso gut und mit einiger Evidenz auch somato-psychische Effekte annehmen kann?

Ein umweltmedizinisch sinnvoller und für die Betroffenen weniger diskriminierender Ansatz wäre es dann, bei möglicherweise multipel belasteten Menschen erst auf der überschaubaren, vergleichsweise leicht zugänglichen körperlich-physischen Ebene zu behandeln (Entlastung des Organismus von Schwermetallbelastungen), bevor man weitere, möglicherweise seelische Belastungen auch nur postuliert (oder behandelt).

Eine Einschränkung hierfür ergibt sich bei Patienten, die im Sinne einer negativen Focusierung (möglicherweise auch nach traumatischen Erfahrungen beim Zahnarzt) eine besondere Zuwendung benötigen, bevor sie einem für sie zielführenden Behandlungsansatz überhaupt zugänglich werden.

Auf der Suche nach einer individuellen Wahrheit wird man zunächst diejenigen Menschen zu erkennen versuchen, die im klassischen Sinne eine Allergie auf den Füllungswerkstoff haben. Hier gab es in der Vergangenheit bereits die ersten Probleme, weil der bisher meist verwendete Epicutan-Test die für Metalle klassische Spättyp-Allergie (Typ IV-Allergie) nicht identifiziert (und einige weitere Probleme aufweist). Im Lymphozyten-Transformationstest (LTT) sind diese Patienten heute aber gut erkennbar.

Von den allergischen Phänomenen nicht immer klar abgegrenzt werden Unverträglichkeiten, die z.B. mit einer mangelnden Entgiftungsleistung im Körpersystem des Patienten einhergehen. Belastungstests (Speichel-, Urin- oder Haaranalysen) sind in der Lage, Zahlen zu liefern: Wie diese einzuordnen sind, ist bis heute nicht unumstritten. Zu einer Berücksichtigung der Kostenübernahme von Amalgamentfernung und -ersatz führen diese Tests im Rahmen der deutschen Krankenversicherung nicht: Nur der Nachweis einer klassischen Amalgam-Allergie oder einer Nieren-Unterfunktion führt (seit 1996) zur Übernahme der Kosten einer Kunststoff-Versorgung durch die gesetzliche Krankenversicherung.

Für Amalgam gibt es allerdings bereits seit vielen Jahren Verwendungseinschränkungen: So sollen Füllungen nicht gegen vorhandene Goldrestaurationen gelegt werden (eine umgekehrte Regelung existiert nicht, und so werden auch weiter Goldkronen gegen vorhandene Amalgam-Füllungen gelegt, weil es keine Klärung der Kostenübernahme für die Entfernung der Amalgam-Füllung in diesem Fall gibt). Auch Schwangere sollen nicht mit neuen Amalgam-Füllungen versorgt werden; eine kostenfreie Alternative steht aber im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung nur mit den nicht so haltbaren Zahnzementen zur Verfügung.

Zusammenfassend kann man zunächst also sagen, dass Amalgam ein Füllungsmaterial  ist, das wie alle anderen Werkstoffe unverträglich sein kann im Sinne einer klassischen Allergie, das aber auch toxische Bestandteile hat, die im Körper wichtige Lebensfunktionen (Enzyme) hemmen können. Ein „blinder“ Austausch gegen ein anderes Material ist nicht zu empfehlen, da prinzipiell jeder körperfremde Stoff mit dem Immunsystem des Menschen in Konflikt geraten könnte4.

Keramiken sind zwar in vielen Fällen eine hilfreiche Alternative, aber nicht jeder Zahn benötigt eine Keramik-Krone – und Füllungen aus Keramik werden mit Kunststoffen eingesetzt, die auch nicht in jedem Fall völlig unbedenklich sind. Gerade Patienten mit einer hochgradigen Empfindlichkeit, vielen nachgewiesenen Allergien oder chronischen Grunderkrankungen tun gut daran, z.B. im Rahmen einer umweltmedizinischen Anamnese und Untersuchung abzuklären, welcher Werkstoff in ihrem Fall zum Einsatz gelangen soll, um nach einem Austausch auch wirklich Ruhe zu haben. Die Vielfalt der heute angebotenen Systeme und Möglichkeiten kann unübersichtlich wirken – eigentlich sind wir aber froh, dass wir heute für jeden Patienten eine passende Alternative finden können.

Nach der vollständigen(!) Entfernung aller Amalgamfüllungen wird von verschiedener Seite oft eine sogenannte Ausleitungstherapie empfohlen beziehungsweise gewünscht, denn die Schwermetallbelastung des Körpers (gespeicherte „Altlasten“, z.B. im Körperfett) ist mit der Eliminierung der Amalgamfüllungen ja nicht beseitigt (was zu Rückfällen nach vorübergehender Besserung von eventuell bestehenden Symptomen führen kann).

Grundsätzlich sind mehrere, ganz unterschiedlich ansetzende Verfahren im Gebrauch, zum Beispiel:

  • biologisch: z.B. Chlorella-Algen mit ebenfalls hoher Bindefähigkeit für Schwermetalle
  • chemisch: z.B. DMPS-Komplexbildner zur Schwermetall-Bindung und   Ausschwemmung 
  • homöopathisch: potenzierte Heilmittel zur Symptombehandlung

Alle diese Verfahren haben unterschiedliche Wirksamkeiten und durchaus wichtige Vor- und Nachteile, so daß sie nur von einem routinierten, mit der Thematik vertrauten Behandler angewendet werden sollten. Die Niere als Haupt-Ausscheidungsorgan sollte vor dem Beginn jedweder Therapie auf ihre Funktionsfähigkeit geprüft werden, bei stark belasteten Patienten sollte im Rahmen einer umweltmedizinischen Diagnostik auch die Funktionsfähigkeit der Blut-Hirn-Schranke getestet werden. Ein verantwortungsvoller Umgang beim Entfernen der Füllungen sollte für Zahnärzte, die den Patienten, ihr Personal und sich selbst nicht gefährden wollen, in jedem Falle selbstverständlich sein. Voraussetzung für die Anwendung weiter gehender Verfahren sollte aus Sicht der Umweltmedizin das Bestehen einer Krankheitssymptomatik sein.

  1. Norheim, AJ, Ramstad, S.: Opplevde sammenhenger mellom amalgam og helse i den norske befolkning. NAFKAMs skriftserie, nr. 2., 2006
  2. Hamre, Harald: Amalgam. Probleme und Lösungen in der naturheilkundlichen Praxis. Hippokrates, 1997, S. 77-80
  3. Melchart, Dieter et al.:Treatment of Health Complaints attributed to Amalgam – The German Amalgam Trial. J Dent Research 2008, 97: 349-353
  4. Reichl, Franz-Xaver: Zur Toxikologie dentaler Restaurationsmaterialien. Vortrag zum 7. Norddeutschen Umweltsymposium Kiel, 18.-19.04.2008

Autor

Dr. Rudolf Völker
Barmbeker Straße 27 B
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Tel.: 040 86 69 01 20
www.zahnfluesterer.net