Parodontitis und chronische Erkrankungen
Parodontalerkrankungen werden in nichtentzündliche Parodontosen und entzündungsgesteuerte Parodontitiden unterteilt. Letztere Form wird meist bakteriell ausgelöst und stellt eine Immunreaktion im Zahnhalteapparat auf biologische Erreger und deren Stoffwechsel- und Zerfallsprodukte und auf die mechanische Reizung durch übermäßigen Zahnsteinbefall dar. Die so ausgelöste Entzündung ist in ihrer Wirkung nicht nur auf das Parodont begrenzt, sondern sie kann den Organismus in seiner Gesamtheit beeinflussen.
Die hier für einige ausgewählte chronische Erkrankungen aufgeführten Mechanismen sind im Grunde für alle chronisch entzündlichen Geschehnisse gültig. Niemals lässt sich für einen solchen Prozess eine einzige Ursache diagnostizieren. Darin liegt auch die relative Erfolglosigkeit der üblichen schulmedizinischen Therapie bei der Behandlung chronischer Erkrankungen begründet.
Der Einfluss der Parodontitis mit der durch sie verursachten Freisetzung von proentzündlichen Zytokinen verdient bei der Betrachtung von entzündlichen chronischen Erkrankungen eine stärkere Beachtung.
Die heutige „Main-Stream-Medizin“, die sogenannte Schulmedizin, ist in ihrem Denken und Handeln absolut sektoral - weil disziplinär – unterteilt (STRAUB 2006). Diese Strukturen verschleiern immer wieder die Sicht auf unseren Organismus als Funktionseinheit. Dieser ist nämlich nicht die Summe seiner Teile sondern das Produkt der voneinander abhängigen Funktionen seiner Teile. Die ewige Reduktion auf einfachste lineare Funktionen bringt die Therapie chronisch kranker Patienten bisher nicht weiter, weil das einfache Wiederzusammenfügen dieser Einzelfunktionen deren Vernetzungen nicht berücksichtigen kann. So kommt man zur Behandlung einzelner Symptome, aber nicht zur Therapie komplizierter pathogener Gesamtkomplexe geschweige denn chronisch kranker Patienten. Das macht auch die vermeintliche Schulmedizin so kostenintensiv, weil es so niemals zu nachhaltigen Therapieerfolgen bei chronischen multifaktoriellen Krankheiten in ihrer ganzen Komplexität kommen kann. Eine Behandlung auf Basis vermeintlich wissenschaftlicher randomisierter Doppelblindstudien kann auf Grund ihrer Ausrichtung auf pathologische Einzelphänomene gar nicht die Gesamtheit einer Krankheit erfassen, weil sie nicht nach ihren Gründen sucht. Diese Suche erscheint zunächst einmal als sehr diffizil, aber dieser Ansatz führt dann häufig zu einer einfacheren Therapie und ist somit der einzige Weg, die Kosten unseres Gesundheitssystems in den Griff zu bekommen statt zielgenau auf seinen finanziellen Kollaps zuzusteuern.
Wenn in der klinischen Therapie die Erkenntnis um sich greift, dass es für unseren Organismus Einflüsse gibt, die durch die Beeinflussung einzelner Funktionen alle anderen auch berühren, wird man nach Belastungen suchen, die das betreffende Krankheitsbild von Grund auf erklären können (GRAF 2010, PISCHINGER 2009). Hier sind entzündungstreibende Allergien unterschiedlicher Charakteristik auf belastende Umweltnoxen z.B. aus Wohn- und Arbeitsumfeld zu nennen, weiter individuell unverträgliche Lebensmittel und deren Zusatzstoffe, Medikamente, Pilzbelastungen uvm. Auch der Mundraum mit und ohne zahnmedizinische Therapieergebnisse kann sich allgemein als Belastung auswirken. Dies geschieht zum einen über toxikologische Mechanismen (Schwermetalle, Kunststoffe, Formaldehyd, Zemente, Kleber). Zum anderen geschieht dies aber auch über hier durch eben schon erwähnte Materialien ausgelöste allergisch-entzündliche Prozesse sowie über initialentzündliche Vorgänge (Granulome, Abszesse, Ostitiden) wie auch über die chronisch-entzündliche Parodontitis marginalis superficialis oder profunda.
Parodontalerkrankungen werden unterteilt in nichtentzündliche Parodontosen (Atrophie – Gewebeschwund) und entzündungsgesteuerte Parodontitiden. Letztere Form wird meist bakteriell ausgelöst und stellt eine Immunreaktion im Zahnhalteapparat sowohl auf biologische Erreger und deren Stoffwechsel- und Zerfallsprodukte als auch auf die mechanische Reizung durch übermäßigen Zahnsteinbefall dar. Die so ausgelöste Entzündung ist in ihrer Wirkung nicht nur auf das Parodont begrenzt, sondern sie kann den Organismus in seiner Gesamtheit beeinflussen (DESCHNER et al. 2011, JEPSEN et al. 2011). Die hier initiierte Makrophagentätigkeit setzt entzündungssteuernde Botenstoffe wie TNF-α, IL-1β, PGE2, IL-6 und IL-8 frei. Hieraus wiederum resultiert dann die sogenannte systemische Entzündungsbereitschaft
(SCHÜTT & VON BAEHR 2012).
Im Folgenden werden einige Beispiele aufgeführt.
Diabetes
Parodontitiden werden von einer Forschungsgruppe der Universität Bonn unter der Leitung von Prof. Deschner und
Prof. Jepsen als favorisierende Faktoren für die Pathogenese des Diabetes mellitus diskutiert (DESCHNER et al. 2011a). Der erhöhte Zytokinspiegel verschlechtert die glykämische Einstellung, was wiederum die Insulinwirkung verringert. Der Glukosetransport in die Zelle wird erschwert und der intrazelluläre Glukosestoffwechsel gehemmt. In der Rückkoppelung fährt Diabetes auch die Entzündungsmechanismen der Parodontitis hoch. Die diabetisch auftretenden AGEs (advanced glycation end product) als Endprodukt fortgeschrittener Glykierung sind kollagenbindend und damit als Regenerationshindernis zu werten. Der Stoffwechsel fährt runter. Die Kollagenbindung kann einen Trigger für eine Immunaktivierung darstellen und damit das entzündliche Geschehen verstärken. Weiter provozieren die AGEs eine Freisetzung aktivierter Kollagenasen (aMMP-8) und damit einen Substanzabbau des Zahnhalteapparates (DESCHNER et al. 2011b, JEPSEN et al. 2011). Auch wirken die AGEs toxisch auf die den Zahnhalteapparat aufbauenden Fibroblasten und Osteoblasten. So schaukeln sich beide Krankheitsmechanismen gegenseitig hoch. Dieser Automatismus kann unterbrochen werden durch eine Parodontalsanierung in Kooperation zwischen Parodontologen und Diabetologen.
Herz-/ Kreislauferkrankungen
Auch für die Entstehung einer Arteriosklerose und deren Komplikationen Thrombose, Herzinfarkt und Schlaganfall kommt eine Parodontitis ursächlich zumindest als Co-Faktor in Betracht (JEPSEN et al. 2011). Vor allem in fortgeschrittenem Alter aber auch bei jungen Menschen können in den Gefäßwänden Peroxidationsschäden auftreten (VAN DER SCHAAR 2011). Auf der anderen Seite muss sich der Organismus bei bestehender chronischer Parodontitis mittels einer Entzündungsreaktion fortwährend mit biologischen und mechanischen Allergenen auseinandersetzen. Das führt zur Sezernierung entzündungssteuernder Botenstoffe, die vor allem mittels Blutkreislauf durch die Körpersysteme vagabundieren und bei einer Funktionsoder Strukturschwäche – hier: Peroxidationsschäden an den Gefäßwänden - andocken können. Darauf kommt es auch hier zu Entzündungsreaktionen mit der Akkumulation der Matrixbaustoffe Proteoglycan und Glukusaminoglycan mit deren Vernetzungsproteinen Kollagen, Elastin, Fibronektin, Hyaluron usw. (PISCHINGER 2009). Weiter beteiligen sich an dieser Entzündungsreaktion auch Fettsäuren zusammen mit dem hier gebundenen LDL-Cholesterin. So kann über die beschriebene „Plaque-Bildung“ die Arteriosklerose dann ihren Lauf nehmen.
Makuladegeneration
Aus diesem Mechanismus heraus verstehen wir dann auch die Entstehung makuladegenerativer Vorgänge. Hier tritt eine Schädigung durch besagte Mechanismen ein. Da die Lichtbündelung hier relativ hohe Temperaturen entstehen lässt, muss eine Kühlung durch erhöhten Blutdurchfluss gewährleistet werden. Das ist der Grund für den hier in der Choroidea um das 20-fache gesteigerten Blutdurchfluss. Werden diese Gefäße nun über eine durch parodontitische Vorgänge hervorgerufene systemische Entzündungsbereitschaft strukturell geschädigt, kann eine für die Makula nicht mehr regulierbare Exudation mit den darauf entstehenden degenerativen Folgen stattfinden.
Darmerkankungen
Unter Berücksichtigung der aufeinander folgenden Mechanismen einer Immunreaktion und damit der Folgen einer systemischen Entzündungsbereitschaft wird klar, dass auch der Darm mit seiner dominierenden Immunfunktion bei Vorliegen unterschiedlich gearteter Entzündungsvorgänge wie derer von Parodontitiden in Mitleidenschaft gezogen werden kann. Nicht umsonst ist die Therapie chronischer Erkrankungen bei Einbeziehung einer kontrollierten Darmsanierung erleichtert (BECKMANN & RÜTTER 2000, MATEJKA & HABERHAUERR 2002). Im Umkehrschluss heißt
das, dass ein chronischer Entzündungsprozess, der nach schulmedizinischer „Main-Stream-Theorie“ nicht mit dem Darmleiden zu tun haben kann, parallel therapiert werden sollte, um in der Behandlung chronischer Darmerkrankungen zu nachhaltigen Erfolgen gelangen zu können. Ohne Entlastung des GALT (gut associated lymphoid tissue) ist die Rezidivgefahr groß (GRAF 2010).
Rheumatischer Formenkreis
Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises beruhen nicht auf einem insuffizienten Abwehrverhalten sondern auf einem überreizten Immunsystem (STRAUB 2006). Vor einem auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Therapieversuch sollte deshalb nach Gründen für diese Überreizung gesucht werden. Ohne Grund entwickelt sich nämlich keine Entzündung – auch nicht die „silent inflammation“ und deren Folgen. Auch hier können Botenstoffe aus ganz anderen Pathologien die Entstehung verursachen. Natürlich gibt es auch in diesen Fällen nicht den einen pathogenen Faktor. Die Parodontitis wie auch andere periphere chronische Entzündungsprozesse als Co-Faktor sollten aber immer in Betracht gezogen werden, denn wenn die Parodontitis als alleiniger kausaler Faktor nicht in Frage kommt, kann sie im multikausalen Geschehen der Pathologie einer chronischen Polyarthritis durchaus ihre Rolle spielen (ANONYM 2011). Die bisherige dem eindimensionalen Ursache-Wirkungsdenken verhaftete Suche nach dem einen pathogenen Faktor hat die „schulmedizinische“ Rheumatologie bis dato nicht weiter gebracht. Die heute übliche allgemeine immunmodulierende Therapie (Immunsupprimation) hat eine Nachhaltigkeit noch nicht nachweisen können. Gleiches gilt für die Psoriasis als dermale Erscheinung des rheumatischen Formenkreises.
Neurodermitis
Auch die Neurodermitis ist eine chronisch entzündliche aber nicht ansteckende Hauterkrankung. Sie ist nicht die Manifestation einer Infektion. Hier muss also woanders nach auslösenden Faktoren gesucht werden. Es muss eine Kausaldiagnostik durch Anamnese, durch Eruieren des jeweils persönlichen Umfeldes und durch Erstellen toxikologischer und immunologischer Befunde durchgeführt werden. Da chronische Entzündungen nach heutigem Wissen immer multikausale Geschehnisse darstellen, muss nach den vielen Gründen und nicht nach dem einen Grund gesucht werden. Einer dieser Gründe kann durchaus auch in einer bestehenden chronischen Parodontitis zu suchen sein. Deshalb hat jeder Zahnarzt vor allem bei allgemeinmedizinisch als chronisch krank diagnostizierten Patienten die Pflicht den Mundraum so zu sanieren, dass hier kein Trigger für ein chronisch entzündliches Geschehen Platz findet. Dazu gehören unter Umständen devitale Zähne, apikale Prozesse, im Einzelfall unverträgliche Materialien - aber auch die häufig nicht allzu ernst genommene oder einfach übersehene Parodontitis (siehe z.B. ALTROCK 1997).
Früh-/ Fehlgeburten
Schon seit Jahren wird auch über parodontitische Einflüsse für den Fachbereich der Gynäkologie berichtet. So können
Parodontitiden Mitverursacher von Frühgeburten sein, weil die über die Parodontitis verursachte Freisetzung von proentzündlichen Zytokinen Früh- oder gar Fehlgeburten auslösen können (KLEBANOFF & SEARLE 2006).
Die hier für einige ausgewählte chronische Erkrankungen aufgeführten Mechanismen sind im Grunde für alle chronisch entzündlichen Geschehnisse gültig. Niemals lässt sich für einen solchen Prozess die eine einzige Ursache diagnostizieren. Darin liegt auch die relative Erfolglosigkeit der bisherigen schulmedizinischen „Main-Stream-Therapie“ begründet. Bei multifaktoriellen Geschehnissen muss es sich, wie der Name schon sagt, um mehrere verschiedene Ursachen zusammen für ein und dieselbe Krankheit handeln. Das müssen aber nicht immer dieselben Ursachen sein. Auch unterschiedliche Ursachen können dasselbe Krankheitsbild verursachen. Das heißt auch, dass der klinische „wissenschaftlich“ kontrollierte randomisierte Doppelblindversuch nicht ausreicht, um die Pathogenese dieser Krankheiten zu ergründen. Dieser Versuch lehnt sich an an die Einführung des kontrollierten Experiments in die Welt der Wissenschaft durch Isaac Newton. Dieser ist aber schon vor fast dreihundert Jahren gestorben (1726). Seither ist aber die Wissenschaft um die Quantenmechanik und vor allem durch die Kybernetik des amerikanischen Mathematik-Wissenschaftlers Norbert Wiener erweitert oder gar revolutioniert worden. Dazu passt die Abkehr vom Determinismus der bis in die 1920er Jahre geltenden Wissenschaft und deren Hinwendung zur Quantentheorie mit den dazugehörenden Wahrscheinlichkeiten des Physikers und Nobelpreisträgers Werner Heisenberg. Die Schulmedizin muss diese wissenschaftlichen Umwälzungen aus der ersten Hälfte des schon vergangenen 20. Jahrhunderts endlich zur Kenntnis nehmen und akzeptieren.
- ALTROCK, T. (1997): Gefahren durch Dentalmaterialien und Umweltnoxen, Hüthig Verlag, Heidelberg.
- ANONYM (2011): Paro-Erreger ist mögliche Ursache der rheumatoiden Arthritis, Zahnärztliche Mitteilungen 101(13): 36-37 [http://www.zm-online.de/m5a.htm?/zm/13_11/pages2/titel2.htm, letzter Zugriff: 6.7.2012].
- BECKMANN, B., RÜFFER, A. (2000): Mikroökologie des Darmes, Schlütersche, Hannover.
- DESCHNER, J., HAAK, T., JEPSEN, S. et al. (2011a): Diabetes mellitus und Parodontitis. Wechselbeziehung und klinische Implikationen. Ein Konsensuspaier, Der Internist 52(4): 466-477.
- DESCHNER, J., JEPSEN, S., JÄGER, A. (2011b): Klinische Forschergruppe 208 »Ursachen und Folgen von Parodontopathien – genetische, zellbiologische und biomechanische Aspekte«, Spitzenforschung in der Zahnheilkunde – Innovationen und Auszeichnungen 2011, Reihe Lebendige Wissenschaft, Hrsg.: Alpha-Informations-GmbH, Lampertheim: 66-86 [http://www.ukb.uni-bonn.de/42256BC8002B7FC1/vwLookupDownloads/AlphaVSpitzenforschung2011.pdf/$FILE/AlphaVSpitzenforschung2011.pdf, letzter Zugriff: 2.7.2012].
- GRAF, K. (2010): Störfeld Zahn. Der Einfluss von Zähnen und zahnärztlichen Werkstoffen auf die Gesundheit, Urban & Fischer, München.
- JEPSEN S., KEBSCHULL M., DESCHNER J. (2011): Wechselwirkungen zwischen Parodontitis und systemischen Erkrankungen, Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 54 (9/10): 1089 – 1096.
- KLEBANOFF, M., SEARLE, K. (2006): The role of inflammation in preterm birth—focus on periodontitis, BJOG: An International Journal of Obstetrics & Gynaecology, Special Issue: Reducing the Burden of Prematurity: New Advances and Practical Challenges, 113(Suppl s3): 43–45 [http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1471-0528.2006.01121.x/full, letzter Zugriff: 6.7.2012].
- MATEJKA, R., HABERHAUER, N. (2002): Die neue Aschner-Fibel. Ausleitende Verfahren für die Praxis, Haug, Stuttgart.
- PISCHINGER, A. (2009): Das System der Grundregulation. Grundlagen einer ganzheitsbiologischen Medizin, 11. Aufl., neubearbeitet und herausgegeben von Hartmut Heine, Haug-Verlag, Heidelberg.
- SCHÜTT, S., VON BAEHR, V. (2012): Die neue Sicht auf die Pathogenese der Parodontitis und daraus resultierende diagnostische und therapeutische Strategien, umwelt med ges 25(3) [in press].
- STRAUB, R.H. (2006): Vernetzes Denken in der biomedizinischen Forschung, Vandenhoek und Ruprecht, Göttingen.
- VAN DER SCHAAR, P.J. (2011): Clinical Metal Toxicology, 10th ed., International Board of Metal Toxicology (IBCMT), Leende, Netherlands.